Interview mit Claude Turmes im Tageblatt

"Bewegung in der Raumplanung"

Interview Tageblatt (Philip Michel)

Tageblatt: Herr Turmes, durch die Pandemie ist die Qualität des öffentlichen Raums als Rückzugsort verstärkt in den Fokus gerückt. Wie definieren Sie einen qualitativ hochwertigen öffentlichen Raum?

Claude Turmes: Das ist ein Raum, der allen Menschen eine komfortable und vielfältige Situation bietet und das Miteinander fördert. Dabei spielt Sport eine große Rolle. Im nationalen Leitprogramm für die Raumentwicklung (PDAT) wird probiert, der Bewegung und dem Sport im öffentlichen Raum mehr Platz einzuräumen.

Tageblatt: Stuttgart hat dazu eigens einen Masterplan entwickelt. Wo steht Luxemburg im Vergleich?

Claude Turmes: Eine Reihe Gemeinden geben sich viel Mühe. Aber dort, wo Stuttgart ist, sind wir nicht. Während wir in Luxemburg viel darüber nachdenken, wie wir den urbanen Raum stärker begrünen können, sind sie einen Schritt weiter. Sie machen sich Gedanken, wie sie Infrastrukturen bewegungsfreundlicher gestalten können. Mit zum Teil ganz erstaunlichen Ideen, wie einbetonierten Trampolinen oder Schaukeln an Bushaltestellen.

Tageblatt: Wie könnte ein Masterplan zur Bewegungsförderung im öffentlichen Raum in Luxemburg aussehen?

Claude Turmes: Meine Aufgabe als Landesplanungsminister ist es, zuerst einmal darauf hinzuweisen, dass wir im öffentlichen Raum eine andere Qualität brauchen. Und zwar eine, die Bewegung fördert und nicht hemmt. Das kann ich, indem ich Konzepte wie das Stuttgarter zeige. Danach liegt der Ball in den Ministerien, v.a. beim Sportministerium. Aber auch beim Nationalen Olympischen Komitee (COSL), das sich länger mit dem Thema beschäftigt, und natürlich bei den Gemeinden.

Tageblatt: Stuttgart ist von der Einwohnerzahl mit Luxemburg vergleichbar. Aber es handelt sich um eine Stadt, die Entscheidungswege sind demnach kurz. Luxemburg dagegen ist ein Land mit 102 Gemeinden, die müssen mitspielen...

Claude Turmes: Ja, aber ich denke, dass das Beispiel Stuttgart unsere Gemeinden interessiert. Es ist wichtig, ein Konzept auszuarbeiten. Das geht nur, wenn so viele Gemeindedienste wie möglich involviert werden. Und natürlich die Einwohner.

Denn es dient niemanden, wenn etwas über das Knie gebrochen wird, was dann zum Beispiel in einer Lärmbelästigung für die Anwohner endet.

Tageblatt: Ist ein Masterplan wie in Stuttgart etwas für unsere Städte, oder auch für die Dörfer?

Claude Turmes: Die Dörfer sind genauso wichtig, da wir ja dort ein wenig das Phänomen der Schlafgemeinden haben, in denen es nicht genug Aktivität gibt. Wir brauchen ganz einfach Plätze, in denen Menschen unterschiedlicher Generationen sich begegnen. Sport und Bewegung fördern genau das.

Tageblatt: Sie haben es angesprochen: Der Schuss kann auch nach hinten losgehen. In Esch musste ein Pumptrack nach Protesten der Anwohner wegen Lärmbelästigung wieder abgebaut werden...

Claude Turmes: Ja gut, als Bürgermeister muss man ab und zu den Mut haben, neue Wege zu gehen. Da kann auch mal etwas schiefgehen. In Stuttgart sind die Menschen aus allen Stadtvierteln mit eingebunden worden. Dann gibt es auch keine negativen Überraschungen. Wir haben das Glück, auf die Erfahrung aus Stuttgart zurückgreifen zu können. Deshalb ist es mir wichtig, dass wir einen Austausch mit den Experten von dort kriegen, um zu verstehen, wie man das konzeptuell realisieren kann und wie man dabei den Bürger einbeziehen kann, um eine möglichst große Akzeptanz zu bekommen. Das läuft über einen Masterplan. Wichtig ist aber auch, dass man in diesem Rahmen Provisorien erlaubt, ein wenig wie beim Guerilla-Urbanismus: etwas schnell umsetzen, um es zu testen - wie bei den Pop-up-Fahrradwegen. Wenn es sich als gut herausstellt, dann kann man eine definitive Infrastruktur daraus machen. Wenn nicht, dann wird es eben wieder verändert.

Tageblatt: In Luxemburg ist das aber mitunter schwierig. Beim Pop-up-Radweg in Esch war der Aufschrei der Autofahrer riesig. Ist eine Verbesserung der Qualität des öffentlichen Raumes nicht automatisch damit verbunden, dem Auto Platz wegzunehmen?

Claude Turmes: Stuttgart ist wohl kaum weniger autoaffin als Luxemburg. Da kann man ja mit ihnen sprechen, wie sie es gemacht haben. Man muss immer die reellen Bedürfnisse der Bürger im Auge behalten. Wenn Parkplatzmangel in einem Stadtviertel besteht, ist es schwierig, weitere Abstellplätze zu opfern. Dann muss man nach anderen Lösungen suchen, wie kleine Parkhäuser z.B. Deshalb ist die Planung auch so wichtig. Man muss zuerst das Mobilitätsproblem proaktiv lösen, ehe man loslegt.

Tageblatt: In Stuttgart wurde mit konkreten Zahlen gearbeitet. 0,23 m 2 Fläche für Bewegung und Sport pro Einwohner gibt es da. Existieren solche Statistiken für Luxemburg?

Claude Turmes: Noch nicht. Aber natürlich muss man mit dem Inventar beginnen, um seine Ziele definieren zu können.

Tageblatt: Die Konferenz ist also so etwas wie ein Startpunkt für Luxemburg. Gibt es einen Zeitplan, wie es weitergeht?

Claude Turmes: Mir ist es wichtig, dass wir Bewegung und Sport im öffentlichen Raum als einen der Schwerpunkte der neuen Landesplanungspolitik sehen. Deshalb haben wir im neuen PDAT auch ein Kapitel dazu. Nun geht es darum, mit dem Sportministerium und anderen Partnern wie dem COSL das Projekt weiterzuentwickeln.

Ich nehme den Kirchberg als Beispiel. Hier ist ein Laufparcours im Park eingerichtet worden, den ich selbst oft in der Mittagspause nutze. Ziel ist es, so etwas in jedem Viertel zu haben. Natürlich kann das nicht immer ein Laufparcours sein. Aber eine permanente Motivation und Möglichkeit, sich zu bewegen. Wichtig ist dabei auch die Schnittstelle zu den Naherholungsgebieten und Parkanlagen. Die soll bestehen, ob vom Arbeitsplatz oder von zu Hause aus. Das ist die Grundüberlegung der Landesplanung.

Tageblatt: So eine Schnittstelle soll auch beim neuen Esch-Schifflinger Stadtviertel Metzeschmelz via eine Brücke zum Naherholungsgebiet rund um den Lallinger Berg entstehen. Ist das neue Viertel so etwas wie ein Vorzeigemodell für die Bewegungsförderung im öffentlichen Raum?

Claude Turmes: Absolut, aber nicht nur durch die Brücke. Die Renaturierung der Alzette wird neue Grünflächen schaffen, die mit denen im Zentrum verbunden sein sollen, so dass jeder Einwohner die Möglichkeit haben wird, von seiner Haustür aus eine schöne Runde durch die Natur joggen oder spazieren zu gehen. Prinzipiell muss man sagen, dass wir ein kleines Land sind, mit einem hohen Siedlungsdruck.

Wir müssen also lernen, verstärkt auf Mehrzweck zu setzen. Stuttgart hat die gleichen Herausforderungen, also können wir von ihnen lernen.

Tageblatt: Wenn wir über Metzeschmelz reden, dann ist der Vergleich zu Belval nicht weit. Vielleicht sogar als Negativbeispiel. Wie könnte man in Belval den öffentlichen Raum umgestalten, um Sport und Bewegung zu fördern?

Claude Turmes: Ja, es fehlt in Belval an Grünflächen. Es wurde nicht weit genug überlegt, wie Studenten oder Bewohner in den Park und zu anderen Plätzen kommen. Deshalb wird momentan ein neues Konzept ausgearbeitet, ein Verkehrskonzept vor allem. Zumal man die Ankunft der Tram antizipieren muss. Das werden wir nutzen, um mehr Platz für den Fußgänger, Radfahrer und auch für die Natur zu schaffen. Prinzipiell geht es aber um den gesamten öffentlichen Raum. In Stuttgart haben sie sich Gedanken gemacht, wie man auch den kleinsten nicht genutzten Platz im Sinne der Förderung der Bewegung umgestalten kann.

Tageblatt: Wenn man über Sport- und Bewegungsförderung spricht, wäre es da als erster Ansatz nicht sinnvoller, die bestehenden Sporteinrichtungen wie Sporthallen oder Schwimmbäder in den Oberschulen besser zu nutzen? Also auch hier auf Mehrzweck zu setzen?

Claude Turmes: Das ist ein gutes Stichwort. Die Regierung hat dazu eine Arbeitsgruppe gebildet. Heute scheitert das oft an Details wie den Arbeitszeiten des Hausmeisters. Da müssen wir strukturell denken und vielleicht ein Budget zur Verfügung stellen, um einen weiteren Hausmeister einzustellen. Bei Neubauten wird die Mehrzwecknutzung mittlerweile in Betracht gezogen.

Tageblatt: Was hat Sie am Stuttgarter Masterplan noch beeindruckt?

Claude Turmes: Zum Beispiel die Bemalung der Treppen, die zur Benutzung anregen soll. D.h. es sind oft ganz einfache Ideen, die bestehende Infrastrukturen bewegungsfördernd machen.

Tageblatt: Abschließend noch eine Frage zu Ihrer Person. 2023 sind Wahlen. Wie sehen Sie ihre Zukunft? Ist Ihr Job in der Landesplanung erledigt?

Claude Turmes: Um als Minister einen Impakt zu haben, musst du zwei Legislaturperioden wirken. Ein Problem der Landesplanung in Luxemburg war, dass jedes fünfte Jahr ein neuer Minister kam.

Wir müssen in Luxemburg viel systematischer planen und aufhören, wild zu verdichten.

Zum letzten Mal aktualisiert am