Interview mit Claude Turmes im Tageblatt

"Elektromobilität ist heute in Luxemburg verankert"

Interview: Tageblatt (Yves Greis)

Tageblatt: Sie waren im Europaparlament immens einflussreich. Warum gaben Sie das auf? Hätten Sie dort nichtmehr bewirken können als im kleinen Luxemburg?

Claude Turmes: In der Klimakrise braucht es auf allen Ebenen Politiker, die Dinge entschieden vorantreiben. Ich habe das im Europaparlament mit viel Freude gemacht. Wenn Camille Gira nicht gestorben wäre und wir nicht schnell eine Lösung hätten finden müssen, wäre ichwahrscheinlich im Europaparlament geblieben. Aber auch in Luxemburg bin ich immer noch Europapolitiker. Als Minister bin ich an jeder EU-Gesetzgebung beteiligt. Zusammen mit dem dänischen Minister habe ich zum Beispiel kürzlich zehn Ländermobilisiert, um zu verhindern, dass weiter EU-Infrastrukturgelder in Gaspipelines fließen. Dieses Match haben wir gewonnen. Das heißt, dass ich auch als luxemburgischer Energieminister Einfluss auf die EU-Gesetzgebung nehmen kann, wenn ich mich mit anderen verbünde. Für mich ist es auch schön, genau die EU-Direktiven, die ich selbst angestoßen habe, jetzt in die Praxis umzusetzen. 2012 habe ich erreicht, dass zukünftig alle Häuser in Europaextrem energieeffizient sein müssen. Vor dem Sommer wurde das großherzogliche Reglement, das bestimmt, wie Häuser in Luxemburg gebaut werden, verschärft. In Luxemburg müssen ab dem 1. Januar 2023 neue Häuser quasi ohne fossile Energie auskommen. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen dem, was damals mit auf den Weg gebracht wurde, und dem, was mein Ministerium jetzt in Luxemburgumsetzt. Dann ist da noch die Elektromobilität, die bis vor drei Jahren kaum Thema in Luxemburg war und jetzt hier verankert ist. Studien zeigen, dass wir das zweitbeste Ladenetz in Europa haben und auch bei den Neuzulassungen gutabschneiden.

Tageblatt: Ist das ein gutes Zeugnis für Luxemburg oder ein schlechtes für die EU? Immerhin gibt es in Luxemburg nicht so viele Elektrofahrzeuge.

Claude Turmes: Es gibt zwei Antreiber für die E-Mobilität. Zum einen sind das EU-Gesetze, an denen ich im Europaparlament mitgearbeitet habe, die Hersteller dazu zwingen, Elektroautos zu bauen. Auf nationaler Ebene zahlen wir in den ersten Jahren Kaufprämien, um den Markt anzustoßen, solange Elektroautos noch teuer sind. Das wird irgendwann kippen. Luxemburg gehört, was die Normen für neue Gebäudeangeht, was die Politik in der Energieeffizienz angeht und was die Politik in der Elektromobilität angeht, zum Spitzenfeld in Europa. Das ist ein gutes Zeichen für das, was wir tun, und kein schlechtes Zeichen für Europa.

Tageblatt: Bedeutet das, dass wir in Zukunft alle Tesla fahren müssen?

Claude Turmes: Nein. Klimaschutz bedeutet öffentlicher Transport. Klimaschutz bedeutet Fahrrad. Klimaschutz bedeutet Viertel ohne Autos bauen, so wie das neue Alzette-Viertel in Esch. Als Landesplanungsminister unterstütze ich Projekte, bei denen das Bedürfnis, ein Auto zu besitzen, reduziert wird. Dadurch entsteht auch eine bessere Wohnqualität, wenn Kinder auf der Straße spielen und Menschen sich begegnen. Für die Menschen, die auf ein Auto angewiesen sind – das ist oft im ländlichen Raum der Fall–, ist es besser, sie fahren ein emissionsfreies Auto. Nach heutigem Stand der Technik ist das ein Elektroauto. Das Elektroauto ist also das vierte Glied in der Mobilitätspolitik. Luxemburg ist übrigens das einzige Land in der EU, in dem die effizientesten Elektroautos besonders gefördert werden.

Tageblatt: Elektromobilität stößt bei den Menschen allerdings nicht immer auf Gegenliebe.

Claude Turmes: Vor drei Jahren habe ich gesagt, dass die Politik, was die Elektromobilität angeht, ihre Hausaufgaben machen muss. Zum einen braucht es attraktive und bezahlbare Modelle. Das Problem haben wir mittlerweile gelöst, auch weil wir auf EU-Ebene die Direktive über CO2 und Autos verabschiedet haben. Das zweite Problem sind die Batterien. Wo kommen die Mineralien her und können sie recycelt werden? Seit September 2020gibt es eine Direktive, die vorschreibt, dass jede Batterie, die in einem Auto verbaut ist, das in der EU zugelassen wird, recycelt werden können muss und dass der Batterieproduzent offenlegen muss, woher er die Mineralien für seine Batterien bezogen hat. Die dritte Hausaufgabe ist die Installation von Ladestationen. In Luxemburg wollen wir dabei exemplarisch vorgehen. Zum einen vergeben wir Prämien für die Installation von Ladestationen zu Hause. Zum anderen gibt es die öffentlichen Ladestationen. Gerade arbeiten wir zusammen mit dem Wirtschaftsministerium an einem Projekt, um Ladestationen am Arbeitsplatz zu fördern. Wir hatten einen guten Austauschmit dem Automobilclub (ACL). Sie waren anfangs sehr skeptisch, u.a. was die Batterien und die Ladestationen anging. Mittlerweile haben wir für die Initiative "Stroum beweegt" 55Akteure mit an Bord. Darunter der ACL, Autohändler und Busunternehmen. Wir wollen einen Konsens mit allen Akteuren erreichen, damit Elektromobilität zur Normalität wird.

Tageblatt: Trotzdem bleiben viele Verbraucher kritisch und ziehen einen Verbrenner vor, auch mit dem Argument, die Technik sei nicht ausgereift und die Reichweite zu niedrig.

Claude Turmes: Diese Kritik kommt von Menschen, die noch nie in einem Elektroauto saßen. Ich selbst besitze kein Auto, aber hin und wiedermiete ich mir Elektrofahrzeuge über Flex oder Carloh. Sie bieten ein gutes Fahrgefühl, stinken nicht und machen weniger Lärm. Sie bringen mich von A nach B und sind dabei sparsamer und verursachen weniger Kosten. Jedem, der kritisch ist, empfehle ich, ein Abo bei Flex oder Carloh zu machen und eine Runde zu fahren.

Tageblatt: Viel Kritik gibt es auch an Windkraftwerken. Kritiker behaupten, die Windkrafträdermachen Lärm und krank.

Claude Turmes: Verglichen mit den Nachbarländern läuft die Windenergie in Luxemburg sehr gut. Es gibt eine sehr hohe Akzeptanz. Das erklärt sich meines Erachtens durch zwei Dinge. Zum einen haben wir in Luxemburg die strengsten Regeln in ganz Europa, was den Lärmangeht. In Luxemburg werden nur die leisesten Windturbinenverbaut, die auf dem Markt zukriegen sind. Zweiten führen die Akteure einen sehr guten Dialog mit den Gemeinden. An den meisten Anlagen, zum Beispiel von Soler, können sich Bürger sogar finanziell beteiligen. Es ist also eine Art Bürger-Energie-Projekt. Manchmal sind Anwohnerskeptisch und recherchieren im Internet. Derzeit beschäftigt sich die Kritik oft mit Infraschall. In Frankreich gab es darüber vor acht bis zehn Jahren eine ganzintensive Diskussion. Das dortige Gesundheitsministerium hat mit einer Studie festgestellt, dass die Kritik aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar ist. Seitdem spielt Infraschall in Frankreichfast keine Rolle mehr. In Deutschland wurde so lange darüber diskutiert, bis festgestellt wurde, dass sich ein wissenschaftlicher Artikel, auf den sich die Kritikerbezogen, in seinen Annahmen um den Faktor 100 geirrt hatte. Infraschall ist laut Wissenschaft kein Problem. Wenn nun Leutebehaupten, dass es doch ein Problem gibt, dann muss ich damit leben.

Tageblatt: Ein großer Teil der CO2-Emissionen in Luxemburg wird durch Pendler verursacht. Wenn Luxemburg CO2-neutral werden soll, müssen Sie also auch hier etwas tun. Wie gehen Sie dieses Problem an?

Claude Turmes: Einwohner fahren im Schnitt20 Kilometer zur Arbeit. Für Grenzgänger ist der Weg zur Arbeit eher 70 bis 80 Kilometerweit. Glücklicherweise gibt es einige Achsen, auf denen der öffentliche Transport gut funktioniert (Lux-Thionville-Metz; Lux-Arlon-Libramont; Lux-Trier). Auf den anderen Achsen ist der öffentliche Transport sehr schwer zu organisieren. Erstens versuchen wir eine proaktive Politik mit den Nachbarregionen zumachen. Zum Beispiel bilden Esch, Audun-le-Tiche und Villerupt in meinen Augen eine grenzüberschreitende Metropole. Als Luxemburger haben wir ein Interesse daran, dass die Lebensqualität in Audun und Villerupt so hoch ist wie in Esch. Wenn Pendler von Metz nach Villerupt ziehen, können sie ihre Lebensqualität verbessern, weil sie nur noch fünf Kilometer nach Luxemburg fahren müssen. Daneben ist Telearbeit sehr wichtig. Mit Belgien haben wir gerade eine neue Regelung verhandelt. Wir sollten grundsätzlich versuchen, jedem zwei Tage Telearbeit in der Woche zu ermöglichen. Das ist nicht nur gut für das Klima, sondern auch um die Straßen zu entlasten. Drittens können Grenzgänger über das Leasing von E-Fahrzeugen auch in den Genuss einer Förderung kommen. Für Menschen, die jeden Tag 80 Kilometer zur Arbeit fahren, ist Elektromobilität fast noch wichtiger als für Menschen, die nur 20 Kilometer zur Arbeit fahren. Auch deshalb ist es wichtig, dass Ladestationen am Arbeitsplatz entstehen. Gleichzeitig tauschen wir uns aber auch mit der Lorraine, dem Saarland und der Wallonie aus, um dort den Ausbau des Ladenetzes voranzutreiben, sodass es für Grenzgänger einfacher wird.

Tageblatt: Seit kurzem gibt es eine neueCO2-Steuer. Sorgt die nichtbloß dafür, dass Grenzgänger im Ausland tanken?

Claude Turmes: Betrachten Sie den Preisunterschied beim Benzin für Privatkunden zwischen Luxemburg und Frankreich, Belgien und Deutschland. Die CO2-Steuer macht den nicht wett. Es wird noch eine Reihe Jahre dauern, bis sich die Preise über eine CO2-Steuer angleichen. Zum einen haben wir die Steuer eingeführt, um Einnahmen für Klimamaßnahmen zu generieren. Die Hälfte der Einnahmen wird explizit für neue Klimaschutzmaßnahmen verwendet. Die andere Hälfte wird verwendet, um Menschen mit geringem Einkommen mehr als zu entschädigen. Statec hat in seiner Studie bestätigt, dass die Menschen mit den 40 Prozent niedrigsten Einkommen mehr von den Kompensationsmaßnahmenerhalten, als sie die CO2-Abgabekostet. Klimaschutz bedeutet weniger fossile Energien. DieCO2-Steuer ist ein Anfang und ein Signal. Unsere Politik ist es, jedem Bürger und Grenzgänger es so einfach wie möglich zu machen, um von einer fossilen Heizung auf eine erneuerbare und von einem Verbrenner auf ein Elektroauto umzusteigen.

Tageblatt: Stichwort Fridays for Future: Ihre Alliierten oder Ihre Kritiker?

Claude Turmes: Ich bin ein großer Fan von Greta Thunberg. Ich bin Greta Thunberg und ihren Brüdern und Schwestern sehr dankbar. Ich mache seit 30 Jahren Klimapolitik. 1988 habe ich für ein Examen eine Studie über Klimaschutzgelesen. Ab diesem Zeitpunkt war für mich klar, dass ich in diesem Bereich aktiv werde. Klimaschutz war die Sache eines kleinen Kreises, der sich damit auseinandergesetzt hat. Greta und Brothers & Sisters haben erreicht, dass das Thema in der breiten Gesellschaft verankert wurde. Deshalb sind sie ganz klar unsere Alliierten. Je mehr sie demonstrieren, je größer wird der gesellschaftliche Konsens über den Klimaschutz und je mehr Handlungsspielraum hat die Klimapolitik.

Tageblatt: Umweltschutz klingt immer teuer. Zum Beispiel Umweltschutzmaßnahmen im Baugewerbe.

Claude Turmes: Das Problem in Luxemburgsind nicht die Solaranlage auf dem Dach oder die Wärmepumpe. Das Problem sind die Preise für Bauland. Wir müssen als Regierung die Notlage am Immobilienmarkt genauso ernstnehmen wie die Klimanotlage. Ich glaube, diese Regierung wird noch diesbezüglich weitere Maßnahmen treffen.

Tageblatt: Ist Atomkraft in der Klimakrise eine Alternative?

Claude Turmes: Tschernobyl und Fukushima haben uns das Risiko der Atomkraft vor Augen geführt. Aber es geht auch um etwas Anderes: Inder Klimakrise muss schnell gehandelt werden. Betrachten Sie die Leistung der europäischen Atomindustrie in den letzten zehn Jahren! Ein Reaktor in Finnland hat zehn Jahre Verspätung. Er sollte drei Milliarden kosten und kostet jetzt zehn Milliarden. Ein Reaktor in Frankreich ist auch noch immer weit von seiner Fertigstellung entfernt. In Europa brauchen wir zehn Jahre und mehr, um1.500 MW zu installieren. In diesen zehn Jahren kann man 15.000bis 50.000 MW an Windkraftanlagen an Land und auf See installieren – und genauso viel Energie an Solaranlagen. Wenn ich Klimaschutzernst nehme, dann sind erneuerbare Energien zum einen die schnellere Alternative und noch dazu die preisgünstigere. EDF baut einen Reaktor in England, der mit110 Euro pro MWh gefördert wird. In Frankreich wurden im Rahmeneiner Ausschreibung für einen Offshore-Windpark 50 Euro pro MWh genannt. Das bedeutet: Eine neue große Windkraftanlage produziert zum halben Preis eines Atomkraftwerks Strom. Zusammenfassend: Atom ist ein Risiko. Atom ist zu langsam. Und Atom ist mittlerweile teurer als Windkraft.

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